Ein Gutes Leben braucht lebenswerte Orte

Wir alle sind bedürftige Menschen. Wir alle haben grundlegende Bedürfnisse, die täglich erfüllt werden müssen. Ob arm oder reich, wir alle müssen schlafen, essen, aufs Klo gehen, uns kleiden, wenigstens ein Minimum an Körperpflege betreiben, uns vor Kälte, Nässe und zu großer Hitze schützen. Es ist also wichtig, unser Leben so zu organisieren, dass dieser menschlichen Bedürftigkeit Rechnung getragen wird. Die Tätigkeiten, die erledigt werden müssen, um diese Bedürfnisse zu erfüllen, nennt man Sorgearbeit oder Carearbeit. Eine zentrale Ressource, um diese Sorgearbeit gut erledigen zu können, ist neben Geld und Zeit die Wohnung.

Wir verbringen 30% unseres Lebens mit Schlafen, also brauchen wir einen Ort, an dem wir in Sicherheit den Alltag loslassen können, um uns im Schlaf zu erholen. Wir müssen essen. Im modernen Leben bauen wir unsere Nahrungsmittel selten selbst an oder sammeln sie in der Wildnis. Die meisten von uns kaufen sie ein und müssen sie dorthin transportieren, wo wir unsere Mahlzeiten zubereiten können und teilweise auch lagern. Also braucht es einen Ort, wo wir einkaufen können, der möglichst nicht zu weit entfernt ist von dem Ort, an dem wir kochen. Und wir benötigen einen Ort, um Lebensmittel zu lagern, teilweise gekühlt. Essen zieht Verdauung nach sich. Das “stille Örtchen” ist also für die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse unabdingbar. Für die Nahrungszubereitung, die Körperpflege und um unsere Kleidung und andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu reinigen, brauchen wir Wasser. Wie gut, dass es in unseren Breiten durch einem Wasserhahn aus der Wand fließt und wir nicht wie in vielen Ländern des Südens jeden Tag stundenlang zur nächsten Wasserstelle laufen müssen, um es nach Hause zu schleppen! Wie angenehm, dass wir heute nicht erst Holz aus dem Wald holen müssen, um überhaupt kochen zu können! Aber die soziale Ungleichheit in unsere Gesellschaft spiegelt sich auch und gerade in diesen Bereichen wider. Im unterschiedlichen Zugang zu all dem, was Orte zu lebenswerten Orten macht.

Für die Menschen, die all die Tätigkeiten ausüben, die für die Befriedigung unserer grundlegenden körperlichen Bedürfnisse notwendig sind, ist die Wohnung, also der Ort, an dem sie erledigt werden, von ganz besonderer Bedeutung. Die Wohnung ist aber auch der Ort, an dem sich die Menschen erholen wollen. Wo sie ihre (nicht nur in Lohnarbeit) verausgabte Arbeitskraft wieder “reproduzieren”, ihre Habseligkeiten aufbewahren. Wo sie Schutz finden vor Kälte, Hitze, Regen. Wo sie “daheim” sind. Wo sie sich austauschen mit jenen Menschen, die ihnen besonders nahe stehen und die mit ihnen diesen Ort teilen. Wo sie ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen. Wo sie als Kleinkinder sozialisiert werden und lernen, Mitglieder der menschlichen Gattung zu werden. Von wo diese Kinder morgens in die Schule und von dort wieder zurückkehren. Wo Alte, Kranke und Behinderte erfahren können, dass sie trotz Alter, Krankheit und Behinderung auch dazu gehören.

Auch wenn es inzwischen glücklicherweise Veränderungen gibt, ist in unserer Gesellschaft doch noch immer die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern so, dass Sorgearbeit großenteils von Frauen erledigt wird. Daher haben Frauen meistens auch eine besondere Beziehung zur Wohnung und zum Wohnen. Und vielleicht ist die Bedeutung nochmal besonders, wenn sie die Arbeit, die sie hier erledigen, unbezahlt leisten. Weniger als zum Beispiel ein Statussymbol ist die Wohnung ihr Arbeitsplatz. Oder genauer: einer ihrer Arbeitsplätze. Der Verlust dieses Arbeitsplatzes, weil er z.B. unbezahlbar wird, trifft sie also besonders stark.

Aber es ist für sie auch besonders schlimm, wenn die Prekarität der sozialen Infrastrukturen im Wohnungsumfeld die Erledigung der Sorgearbeit erschweren. Weite Wege zur KiTa oder zum Hort, zum Spielplatz, zur Schule, um Lebensmittel einzukaufen, zum Erwerbsarbeitsplatz, zum Arzt oder zur Apotheke, zum Gemeindezentrum, zum Sportplatz, zum Schwimmbad, schlechte Anbindung an den (teuren) öffentlichen Personennahverkehr kosten viel Zeit, eine immer knapper werdende nicht erneuerbare Ressource. Wenn auch noch mangelnde Sicherheit dazu kommt, wie dunkle Straßen in einer unsolidarischen oder gar feindseligen Nachbarschaft, dann rückt Gutes Leben in weite Ferne.

Wohnen ist ein Grundrecht1, das die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Artikel 25 anerkennt. Aber Immobilien werden von privaten Investoren als sichere Wertanlage betrachtet. Und die Wohnungspolitik fördert die Vermögenskonzentration in wenigen Händen auch noch durch die Umsetzung der neoliberalen Doktrin, die behauptet, dass die “unsichtbare Hand des freien Marktes” Probleme besser lösen würde als die “ineffiziente öffentliche Hand”. Statt selbst genügend Sozialwohnungen zu bauen und sie Berechtigten günstig zu vermieten, werden Investoren subventioniert, indem der Staat dem privaten Sektor Mieter verschafft und deren Mietkosten als “Wohngeld” aus Steuermitteln bezahlt. Es funktioniert wie die Subvention von Unternehmern, denen “Aufstocker” als billige Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden. Die Steuerzahlenden übernehmen damit einen Teil der anfallenden Personalkosten und produzieren nebenbei Altersarmut.

Die wachsende Konzentration von Vermögen in der Gesellschaft geht einher mit einer wachsenden Konzentration der Bevölkerung in den Ballungsgebieten. Gleichzeitig verschärft sich die Landflucht in manchen Gegenden. Auf der einen Seite entsteht Wohnungsnot, auf der anderen stehen Häuser leer und entvölkern sich ganze Landstriche. Die Kommunen dort verarmen und der Erhalt von Infrastrukturen wird kostspieliger, was einen Verbleib vor Ort immer unattraktiver macht. Der demographische Wandel, der sich u.a. darin niederschlägt, dass die Zahl der Single-Haushalte gerade in den Ballungsgebieten steigt, begünstigt  wachsende Vereinzelung und Entsolidarisierung.

Frankfurt ist das Zentrum eines sich immer stärker verdichtenden Ballungsgebietes. Bezahlbare Wohnungen sind chronische Mangelware. Man trifft überall auf Baustellen. Aber es handelt sich immer um hochpreisige Wohnungen. Manche werden von Personen gekauft, die in jeder wichtigen Metropole eine Wohnung besitzen, aber nur wenige Tage im Jahr dort verbringen. Den Rest der Zeit bleiben diese Wohnungen unbewohnt. Gleichzeitig gibt es immer mehr Familien, die in immer größerer Entfernung von ihrer Erwerbsarbeitsstelle in den Ballungszentren wohnen müssen, um sich eine angemessene Wohnung leisten zu können. Sie zahlen dafür zusätzlich mit ihrer Zeit in der Familie, Zeit, die für das immer längere Pendeln draufgeht. Ressourcen, die eigentlich für die Reproduktion zur Verfügung stehen sollten, für die wichtige Carearbeit und die eigene Erholung, werden unbezahlt verbraten für das tägliche Pendeln. In Frankfurt sind knapp 48% der Haushalte sozialwohnungsberechtigt. Dem stehen aber nur 8,7% Sozialwohnungen gegenüber. Das heißt, dass vier von zehn berechtigten Haushalten sich auf dem teureren “freien Markt” versorgen müssen.

Was können wir als Bürgerinnen und Bürger tun, damit der Raum so gestaltet wird, dass lebenswerte Orte für alle entstehen, nicht nur für eine kleine Minderheit in der Gesellschaft? Alleine werden wir es einfach nicht schaffen. Alleine können wir höchstens über die Farbe userer Wände entscheiden und wie wir unsere Habseligkeiten innerhalb unserer Wohnung verteilen, falls wir nicht zu der wachsenden Zahl der Obdachlosen gehören.

Wir müssen uns also vernetzen zu gemeinsamen Handeln. Mit den vielen Initiativen, die bereits in Ansätzen ein Leben nach dem Zusammenbruch des jetzigen Systems ausprobieren. Mit Menschen, die die Vereinzelung durch den individualisierten Konsum der Wegwerfgesellschaft ablehnen und statt dessen solidarische Gebrauchsgemeinschaften bilden. Die gemeinsam Büros und (Reparatur-)Werkstätten nutzen. Die neue Formen kollektiven Wohnens ausprobieren. Die mit solidarischer Landwirtschaft experimentieren, mit Gemeinschaftsgärten. Die zu lernenden und füreinander sorgende Gemeinschaften werden.

Wie muss der Raum gestaltet sein, damit die Vereinzelung und Anonymität des aneinander Vorbeilebens zu einem solidarischen Miteinander wird? – Warum erlebt die Wohnküche des Arbeitermilieus gerade in der Mittelschicht ein Comeback? – Was suchen die Menschen, wenn sie in Kneipen oder auf öffentlichen Plätzen zum Public Viewing zusammenkommen? – Warum haben sich so viele Menschen ehrenamtlich engagiert, als im vergangenen Sommer die Grenzen für Geflüchtete geöffnet wurden?

Was würden Menschen tun, wenn jeder und jedem durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen eine materielle Existenzsicherung garantiert würde, so dass sie nicht wegen eines Jobs im Ballungszentrum leben oder täglich dorthin pendeln müssten?

Wie sollten unsere Quartiere hier in Frankfurt aussehen, damit es lebenswerte Orte sind?

Lauter Fragen. Laßt uns zusammen Antworten darauf suchen und Lösungen finden.

1Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. (Artikel 25.1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948)


Ein Gedanke zu “Ein Gutes Leben braucht lebenswerte Orte

  1. Wäre das nicht eine Idee zum aufgreifen,z.B. Das GesellenInnentum? Und zwar z.B. ab dem Delta von Rotterdam den Rhein entlang durch Deutschland,mit den angrenzende Länder,ins Gotthardgebiet Schweiz eine Route zur Quelle zu folgen und mit einem Diplom abzuschliessen für sämtliche Berufe..Mit angrenzende Herbergen entlang dem Fluss für die Uebernachtungen zu koordinieren.Besonders für die Jugend interessant.Diese Idee verfolge ich schon lange.

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